GESCHICHTE VOM „HAUS DER PARADIESVÖGEL“

Wie so manches alte Toggenburger Haus hat auch das „Haus der Paradiesvögel“ vieles zu „erzählen“. Wir dürfen uns aber glücklich nennen, wenn bruchstückhaft einzelne Geschichten ihre Spuren in Form von Texten, Bildern, Gegenständen, Besonderheiten des Hauses oder im Gedächtnis von Zeitzeugen hinterlassen haben. Vielleicht lassen sich die wenigen Puzzlesteine von mehreren Generationen zu einem schemenhaften Gesamtbild zusammenfügen. Dabei müssen die vielen Lücken mit Phantasie ausgefüllt werden, was reizvoll ist und den alten Häusern etwas Magisches und Geheimnisvolles verleiht. Je ursprünglicher der Zustand des Hauses, desto leichter fällt es einem, sich in die Stimmung der damaligen Zeit zu versetzen. Vielleicht überwiegt in den so entstandenen neuen Erzählungen das Anekdotenhafte, je nachdem wie die Erzählerin oder der Fabulant die Lücken füllt.

         

Und so bezeichnen wir das Mitte des 19-ten Jahrhunderts (Eintrag im Archiv der Denkmalpflege SG: 1841-1860) erbaute Gebäude „Haus der Paradiesvögel“, dessen Namen erahnen lässt, aus welcher Verfassung und Perspektive wir die Lücken gefüllt haben.

Das im Biedermeier-Stil erbaute Haus beherbergte gleich mehrere Künstler, wovon einer Weltberühmtheit erlangt hat: Friedensreich Hundertwasser (1928 bis 2000). Einen ersten Hinweis, dass Hundertwasser im „Haus der Paradiesvögel“ gewohnt hatte, erhielten wir quasi in einem Nebensatz von den vorgängigen Besitzern. Aber trifft denn ihre Aussage wirklich zu? Obwohl die Lebensstationen von Hundertwasser recht detailliert festgehalten wurden und auch für jedermann im Internet eingesehen werden können, ist darin weder die Dauer seines Aufenthaltes noch das Haus, in welchem er gewohnt hatte, erwähnt. Glücklicherweise hatte Hundertwasser viele seiner Bilder mit Titel, Ort, Monat und Jahr dokumentiert und so auch jene drei, die er in Hemberg gemalt hatte (vgl. unten). Somit wissen wir, dass diese in den Monaten Juni und Juli in Hemberg entstanden waren. Doch in welchem Hause? Betrachtet man die unter dem Stichwort „Hundertwasser“ im Internet zu findende Schwarzweiss-Foto genauer (vgl. unten), so sitzt Hundertwasser im Garten vom „Hauses der Paradiesvögel“. Im Hintergrund zu sehen ist „Halden“ oberhalb des Weilers Bächli und im Vordergrund die Gartenmauer, die in ihrem Originalzustand noch besteht. Das Bild ist beschriftet „Mit Hermann Selinger zusammen gebastelte Holzbank in aerodynamischer Form“. Stünde heute die aerodynamische Holzbank in einem Museum, wäre sie nur für sehr begüterte Käufer erschwinglich, doch Anna Grob fand sie zu unbequem und nutzte das Holz zum Wärmen der Stube. Der etwa 7-jährige Bub auf den Schultern von Hermann Selinger ist der zurzeit in Deutschland lebende Sohn Viktor Selinger. Damit konnte eine wichtige Lücke geschlossen werden: Friedensreich Hundertwasser hatte in der Tat im „Haus der Paradiesvögel“ auf dem Hemberg gelebt und gemalt!

257 Objekt (1956)   

Mauer von der Vorderseite

Was den damals noch nahezu unbekannten 28-jährigen Hundertwasser bewogen hatte mit Hermann Selinger ins abgelegene Hemberg zu reisen, muss Spekulation bleiben. Doch ist von beiden überliefert, dass der Umgang mit Geld nicht ihre Stärke war und dass sie sich in Paris kennen gelernt hatten. So vermuten wir, dass vielleicht Geldnot die beiden gezwungen hatte, die Rückreise anzutreten – für Hundertwasser war Hemberg eine Zwischenstation – oder Selinger hatte ihm vom schönen Toggenburg geschwärmt. Hinweise, dass Hundertwasser von der Landschaft und den Toggenburger Häusern sehr angetan war, finden sich in seiner Architektur-Philosophie, in den Titeln der hier entstandenen Bilder und vom bereits erwähnten Zeitzeugen. In den Manifesten von Hundertwasser finden sich folgende Aussagen: Die Natur hat hauptsächlich zwei Farben: Das ist das Grün der Vegetation und das Schwarz oder das Dunkelbraun der Erde und Schatten. Deswegen ist es von Bedeutung, dass … die Farbe der Häuser dunkel gehalten wird. Besonders helle Farben sind in unseren Breitengraden ein Anachronismus. Aussen das Kalkweiss ist kleinodig kostbar wie auf alten Bauernhäusern.“ Die Erklärung scheint wie auf die Toggenburger Häuser zugschnitten zu sein. Wer könnte seiner Wertung widersprechen? Und der Zeitzeuge Viktor mag sich noch erinnern, dass Hundertwasser oft kurz vor dem Sonnenaufgang über dem Säntis aus seinem Nischenbett sprang und dürftig bekleidet in den Garten rannte, um das Naturschauspiel zu bewundern.

Ein genauerer Blick auf die drei in Hemberg entstandenen Werke lässt Interessantes vermuten. Zwei der Werke wurden auf Packpapier gemalt, eines davon hat ein Loch (259 Les chemins roses du Toggenburg (Hemberg, Juni 1956). Zur selben Zeit befand sich ein Metallwarenladen im „Haus der Paradiesvögel“. Es ist verbrieft, dass Hundertwasser für seine Werke gerne Materialien vor Ort verwendete, darunter auch Abfallprodukte. Es ist deshalb naheliegend, dass er das Packpapier für die je auf mehrere Hunderttausend Franken geschätzten Werke aus dem Metallwarenladen verwendet hatte.

Weder Hundertwasser noch Selinger waren alkoholischen Getränken abgeneigt…. Auf dem Bild 258 Grasbewachsene Regentropfen (Hemberg, Juni 1956) findet man als Hintergrund lauter (volle, leere?) Flaschen mit Etiketten, teils realistisch, teils abstrahiert dargestellt. Lassen wir wieder der Phantasie freien Lauf: Wurde das Motiv geboren während Hundertwasser und Selinger Vergorenes in einem der Wirtsstuben in Hemberg ​_konsumierten, im Sternen, Löwen oder in der Krone?

260 Kontakt zweier Blumen    (Hemberg, Juni 1956)

258 Grasbewachsener Regentropfen (Hemberg, Juni 1956)

259 Die rosa Wege von Toggenburg (Hemberg, Juni 1956)

 

Doch wo hatte Hundertwasser sein Atelier und wo hatte er geschlafen? Da kommt wieder Zeitzeuge Viktor Selinger ins Spiel. Er malte im Dachzimmer und schlief in der noch bestehenden Nische im gleichen Raum (siehe Foto). Gut möglich, dass die Schlafnische im Dachzimmer Hundertwasser so behagt hatte, dass die später im Hundertwasserhaus in Wien eingebaute Nische einen emotionalen Bezug zur Hemberger Variante hat. Von der Schlafnische in Wien haben wir ebenfalls von einer Zeitzeugin erfahren: Nicole Stettler von der Hundertwasser-Markthalle in Altenrhein.

Andere waren zwar weniger berühmt als Hundertwasser, haben aber das „Haus der Paradiesvögel“ länger bewohnt. So hatte der Hemberger Gemeindeamman Jakob Grob seine Kanzlei ab 1906 im Nebenzimmer der damals noch unterteilten Stube. Zu dieser Zeit hatte das Haus weder eine Terrasse noch einen Anbau auf der Nordseite. Der kam erst in den 20-er Jahren dazu. Jakob Grob hatte ihn als Garage konzipiert und wäre wohl einer der wenigen Autobesitzer auf dem Hemberg gewesen, doch zu einem Autokauf war es nicht gekommen. Die „Garage“ beherbergte alsbald einen Metallwarenladen und diente als Lager für die Bilder von Hermann Selinger. In der Folge führten Frau Arlette Wiesendanger und Frau Lis Wartmann im „Haus der Paradiesvögel“ ein Kinderheim, erteilten anderen Kindern von Hemberg Bibelunterricht und gründeten nach mehreren Jahren unweit vom „Haus der Paradiesvögel“ das Kinderheim „Arlis“. Nicht unter jedem Dach eines alten Hauses herrschte immer eitel Freude, so auch zur Zeit des Kinderheims.

Sowohl Hermann Seelinger als auch Fernando Suarez – beide ehemalige Partner von Anna Grob-Suarez – waren als Kunstmaler tätig. Während den Renovationsarbeiten kamen die beiden Wandgemälde von Hermann Selinger zum Vorschein, die um 1956 entstanden sein mussten (vgl. Foto). Ein Wandgemälde im Sekundarschulgebäude in St. Peterzell erinnert noch an sein Wirken, während ein Alpaufzug beim Restaurant Löwen einer Fassadenrenovation zum Opfer fiel.

Verschiedene damalige Mieterinnen und Mieter des „Hauses der Paradiesvögel“ wohnten oder wohnen noch heute in Hemberg. Ihre Erinnerungen an jene Zeit tragen zur Lebendigkeit der Geschichte dieses Hauses bei. Auch die in Mettmenstetten lebende Annemarie Gerber (Foto oben zusammen mit Anna grob links) besuchte als beste Freundin von Anna Grob regelmässig Hemberg und ist ebenfalls eine wichtige Zeitzeugin.

Zwischen 2006 und 2011 wurde das „Haus der Paradiesvögel“ im Wohnbereich modernisiert und hat wegen einer neuen Raumaufteilung einige Veränderungen erfahren. Die heutigen Besitzer haben das Haus weitgehend isolieren lassen und im Kellergeschoss einen Mehrzweckraum realisiert, der heute als Neurofeedback-Praxis dient und Platz für diverse kulturelle Veranstaltungen bietet(siehe Bildgalerie und NEUROKULTUR). Es erfüllt uns mit Dankbarkeit, dass wir unter dem Dach dieses Hauses unsere beruflichen und kulturellen Interessen verbinden und verwirklichen dürfen.

Zur Erinnerung an den Aufenthalt von Hundertwasser in Hemberg steht vor dem „Haus der Paradiesvögel“ eine Tafel vom Neckertal Tourismus. Die drei Säulen, deren Gestalt vom Hundertwasser-Werk inspiriert ist, hatten wir unter zeitweiser Mithilfe von weiteren engagierten Leuten anlässlich der Hundertwasser-Woche 2016 erbaut (siehe Fotos).